Morgen ist Referendum. Theoretisch fühle ich mich gerade an dem Ort, wo es in Europa so richtig abgeht. Abgehen sollte. Abgehen könnte. Tut es aber nicht. Schlendere ich durch Xanthis Straßen und Altstadtgassen, vorbei an Cafés und Restaurants, dann sehe ich Leute, die gemütlich ihren Kaffee trinken, ein wenig plaudern, recht unaufgeregt, ein Lachen hier, ein Lachen dort. Tische in Restaurants sind gut gedeckt, von Krise keine Spur. Ab und zu sieht man einen alten Mann mit Ziehharmonika um Geld spielen, oder ein kleines Mädchen, das an den Tischen Taschentücher verkauft. Ich komme am Geldautomaten vorbei, keine Schlange davor, was bedeutet, dass er schon leer ist und erst morgen wieder Geld spuckt. Am zentralen Platz von Xanthi ist ein bettlakengroßes Banner aufgehängt, Syriza lässt grüßen und schätzungsweise propagiert es für das morgige Nein.


Ein Plakat, ein einziges Plakat. Keine Demonstration, kein Aufruhr. Sollten hier nicht Tische und Stühle durch die Luft fliegen? Ist morgen nicht der vielleicht wichtigste Tag in der Geschichte des Landes? Geht es nicht um alles? In Athen sollen 30.000 Nein- und 20.000 Ja-Demonstranten auf der Straße gewesen sein. Auch dies sind sehr geringe Zahlen, selbst Pegida schaffte mehr. Standen die anderen noch alle am Geldautomaten an, und konnten von daher nicht zur Demo?


Bei einem Eistee mache ich mir die selben Gedanken, wie schon gestern beim Radeln entlang der Ägäis. Welches Kreuz ist richtig? Ist es für Griechenland und Europa wirklich das Beste, wenn die Griechen mit Ja stimmen, wie es in deutschen Medien überwiegend analysiert wird? Wenn der Beitritt Griechenlands zum Euro ein katastrophaler Fehler war, wovon man heutzutage ja recht sicher ausgehen kann, dann muss man diesen Fehler doch irgendwie revidieren können. Euro-Austritt und alles wird wieder gut. Oder kann man durch Korrektur vieler kleiner Fehler die große Misere abschwächen? Weitere Rettungsschirme und gute politische Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft.


Wie ist es eigentlich zu dieser Situation gekommen? „The Greeks are lazy people sitting on their arse all day“, hatte ich so oder so ähnlich 2-3mal auf meiner Reise gehört. Kann ich teilweise bestätigen, jetzt wo ich hier bin. Aber, dies betrifft einige Griechen. Man kann es sich nicht so einfach machen und ein ganzes Volk als faul einstufen, so die Krise begründen und gleichzeitig eine Schuldzuweisung treffen. Den Wahrheitsgehalt aller durch Medien und Politikern gestreuten Zahlen und Statistiken kann ich auch nicht beurteilen. Dennoch habe ich für mich drei Schlüsse gezogen:


Erstens, hätte Griechenland nie der Eurozone beitreten dürfen. Dies ist in erster Linie den damaligen griechischen Regierungsmitgliedern zuzuschreiben, teilweise aber auch der bewussten Naivität der beteiligten Politiker in den anderen Eurozonenländern. Ein wenig Kontrolle von solch elementar wichtigen Zahlen vor Schließen einer unumkehrbaren Währungsunion wäre angebracht gewesen. Dies ist geschehen. Es ist wie es ist.


Zweitens kann es nicht sein, dass griechische Regierungen seit Beginn der Krise vor etwa fünf Jahren weder Korruption ernsthaft bekämpft haben, noch die griechische Oberschicht mit ihren im Ausland gelagerten Milliarden zur Kasse gebeten haben, oder die überproportional hohen Militärausgaben kürzten. Einfache Stellschrauben, die keine negativen Auswirkungen aufs Wirtschaftswachstum haben. Dies ist nicht geschehen. Es sollte nicht so sein wie es ist, sondern schleunigst nachgeholt werden.


Drittens glaube ich, dass die deutsche Politik der letzten Jahre Griechenland immer weiter in den Abgrund getrieben hat. Zum einen sind da die zwanghaften Sparauflagen, die meist auf die Mittelschicht und Unterschicht zielen, und damit die eh schon schwache Wirtschaft zum Zusammenbruch brachte. Zum anderen hilft der enorme Exportüberschuss Deutschlands den ärmeren Euroländern nicht, und Deutschland hätte dem durch Anheben der Löhne ein wenig entgegen steuern können. Aber Angela hat nur rumgemerkelt statt die richtigen Dinge geschehen zu lassen. Auch hier gilt: Zeit, dass sich was dreht an den Stellschrauben, die sowohl uns als auch Griechenland helfen können.


Wird hier morgen was abgehen? Glaube ich nicht. Die Griechen werden zur Wahl gehen oder auch nicht. Ins Café werden sie gehen. Und dort den ganzen Tag sitzen und Kaffee trinken, wie heute auch. Wielange sie dies noch tun können, das entscheidet sich morgen. Oder auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich morgen für Ja oder Nein stimmen würde. Und vielleicht wissen es die Griechen auch nicht so recht. Vielleicht stimmen sie mit Bauchgefühl. Oder weil heute beim Kaffee jemand diese oder eine andere Meinung vertritt. Wer weiß es schon genau!? Und vielleicht geht deswegen auch nicht viel ab in Griechenland, vielleicht fliegen deswegen keine Tische und Stühle. Vielleicht bleiben die Griechen deswegen ruhig auf ihren Stühlen sitzen und trinken Kaffee, weil keiner weiß, was man morgen eigentlich genau abstimmt. Und weil keiner weiß, wie lange es noch möglich sein wird, im Café zu sitzen und Kaffee zu trinken.