Kurze 60 Kilometer. Einmal noch die Kurbel treten, den Fahrtwind spüren, und über den Asphalt gleiten. Es fühlt sich auf einmal so leicht an, pedallieren statt strampeln, die Anstiege erklimme ich auf dem mittleren Blatt. Dies mag daran liegen, dass ich ohne Gepäck unterwegs bin, eine Wohltat, sowohl ob des leichteren Vorankommens als auch aufgrund des gesamten Fahrgefühls. Das Rad schwingt federleicht unter meinem Körper, wenn ich aus dem Sattel gehe, es liegt ganz anders in der Kurve, wenn ich die Serpentinen wieder herunterdüse, und der Bremsweg ist bestimmt auch kürzer. Aber wozu bremsen?


Der kleine Abstecher aus Istanbul raus ans Schwarze Meer mutet an, wie eine Ehrenrunde. Vor genau einem Jahr liefen Lahm und Schweinsteiger samt Weltpokal die Runde durch das Maracana, umjubelt von Tausenden. Statt Jubelschreien habe ich es lediglich mit gelegentlichem Hupen zu tun, das meist jedoch als Aufmunterung gilt (Seit Serbien mache ich die Erfahrung, dass Radfahrer anzuhupen nicht den Charakter der Beschwerde, sondern den des Anfeuerns hat). Nach einer guten Stunde taucht vor mir das endlose und tiefe Blau des Schwarzen Meeres auf, Tanker liegen auf Reede, unter mir goldgelber Strand, gut gepflegt mit Schirmen und Sonnenstühlen in Reih und Glied. An diesen Strand zu kommen ist ein anderes Thema, da es sich ausschließlich um private Strände handelt, Eintritt fünf Euro. Von wegen! Nach einem kurzen Gespräch mit den Jungs am Einlass, und meiner Erzählung, dass ich ganz von Hamburg her geradelt wäre, um ans Schwarze Meer zu kommen, darf ich auch ohne Entgelt die steile Küste zum Wasser runterfahren.


Und so tippe ich mein Vorderrad ins Wasser und bin endlich so richtig am Ziel. 3.340 Kilometer achterraus liegt die Kugelbake in Cuxhaven, die geliebte Nordsee. Dazwischen liegen viel Strecke und viele gute Erinnerungen. Schweiß und Schmerz. Sonne und Weite. Elbe und Donau, Berge, Felder und Wälder. Viel Asphalt, Schotter, und Wege, die keine waren. Tolle Menschen.

Nach einer kleinen Köfte-Sandwich Pause mit Blick in die Ferne fahre ich am Bosporus entlang zurück nach Istanbul. Ich freue mich auf Deutschland. Aber ich stelle mir auch vor, wie es wäre, wenn ich weiter fahren würde. Quer durch die Türkei, Georgien und Aserbaidschan zum Kaspischen Meer. Durch Zentralasien, Kasachstan, Usbekistan, Tajikistan und Kyrgizstan ins Pamir Gebirge. Über den Karakoram Highway runter nach Pakistan und Indien. Weiter nach Nepal. Katmandu. Mount Everest!


Weiter komme ich nicht. Zumindest jetzt in meinen Gedanken nicht, denn der Stadtverkehr Istanbuls fordert volle Aufmerksamkeit. Ich habe vieles gelesen, in der Regel schlechtes, weswegen ich bei Ankunft froh war, per Schiff bis fast ins Stadtzentrum zu gelangen. Heute hole ich das verpasste nach, noch frisch und munter und ohne Gepäck. Die Taktik um schwierigen Situationen zu entgehen: Anpassen! Dies ist meist der beste, wenn nicht einzige Weg, um erfolgreich im Ausland zu agieren, und meiner Meinung nach auch das Erfolgsrezept im Hauen und Stechen auf Istanbuls Straßen. Wobei es von Osten kommend entlang des Bosporus nicht allzu haarsträubend ist. Ich mache mich breit, ich fahre schnell, ich überhole Autos, die zu langsam fahren, ich wechsele die Spur und gebe per Handzeichen zu verstehen, dass an mir kein Vorbeikommen ist. Mit 30-35 km/h fliegen die Schiffe, Angler und schicken Restaurants am Ufer des sagenhaft schönen Gewässers an mir vorbei, bis ich wieder vor einer Ampel stehe, oder eine Fotopause an der Bosporus-Brücke mache. Ich liefere mir ein kleines Rennen mit türkischen Rennradfahrern und sehe, dass meine Fahrweise der ihren entspricht. Ich fühle mich wie Schweinsteiger und Lahm, die sich ihren Weg zwischen den Scharen an Reportern hindurch in die Kabine suchen. Ein Schubsen und Drängen, aber doch irgendwie auch Respekt. Ich habe nicht das Gefühl, dass mich hier irgendein Taxi über den Haufen fahren würde.


Die Ehrenrunde ist vorbei, das Rad mittlerweile eingepackt für den Rückflug am Sonntag. Der Traum vom Weiterradeln bleibt, genauso wie die Freude auf ein wenig Heimat. Drei Drei Acht Null. Soviele Kilometer habe ich mühsam getreten. Ganze drei Stunden braucht der Flieger.


Tag 34, Ehrenrunde Istanbul: 58km, 930Hm, 22,2km/h